Whangarei, April 1885
Dunkle Wolken hingen über dem neu errichteten Gerichtsgebäude an der Walton Street, als Lily es in Begleitung ihres Anwaltes betrat. Matui war vorgegangen, um sich einen Platz im Zuschauerraum zu sichern, denn die Farmer hatten angedroht, alle gemeinsam den Prozess zu besuchen.
Lily aber ging durch die Reihen zu ihrem Platz, ohne nach links oder rechts zu sehen. Kalte Schauer rieselten ihr den Rücken hinunter, als sie sich setzte. Sie kam sich vor wie in einem Käfig,
Doch William flüsterte ihr ermutigend zu: »Ich bin bei Ihnen, auch wenn ich da vorn an dem Tisch sitze.«
Lily nickte und entspannte sich ein wenig, wenngleich es in ihrem Kopf zum Zerbersten hämmerte. Es hatte heute Nacht angefangen und wollte und wollte nicht besser werden. Ich kann nur froh sein, dass ich nicht in Fesseln vorgeführt werde wie eine Mörderin, ging es ihr durch den Kopf, während sie ihre Finger sanft gegen die Schläfen drückte. Sie wandte ihren Blick jetzt dem Richter zu, einem älteren Herrn, der mit Sicherheit auch unter seiner weißen Perücke bereits weißes Haar besaß. Er machte einen gütigen Eindruck und wirkte beruhigend auf sie. Doch sie wusste, dass er nicht viel zu sagen hatte. William hatte ihr in allen Einzelheiten geschildert, wie dieser Prozess ablaufen würde. Über ihre Zukunft entschieden die zwölf Geschworenen, die ihr gegenüber auf der anderen Seite im Saal saßen. Es half nichts. Sie musste der Wahrheit ins Auge sehen. Ein Schreck durchfuhr ihre Glieder, als sie nur weiße Männer mittleren Alters erblickte.
Hatte William nicht versprochen, die Jury in ihrem Sinn auszusuchen? Maori und Frauen durften offenbar nicht ausgewählt werden. Daran hätte sie denken müssen. Ihr Blick verfinsterte sich angesichts dieser Front von verschlossenen Männergesichtern. Sie versuchte Fassung zu bewahren, als der Ankläger, Mister Owen, ein untersetzter kleiner Mann mit einem kahlen Schädel und listigen Augen, mit donnernder Stimme verkündete, dass die hier anwesende Emily Newman im Namen der Königin beschuldigt werde, durch grobe Fahrlässigkeit den Tod der Farmersfrau Claire Füller und ihres ungeborenen Kindes verursacht zu haben.
Bei Nennung des Namens Emily Newman zuckte Lily unmerklich zusammen. Sie befürchtete, dass ihr die Tatsache, dass sie als verheiratete Frau mit einem anderen Mann unter dessen Namen zusammengelebt hatte, nicht zum Vorteil gereichte. Ihr Mut sank ins Bodenlose, als sie einen Blick in den Zuschauerraum wagte. Da hockten jene Männer mit anklagenden Mienen, die es allein Tamati und ihr zu verdanken hatten, dass ihre Kinder heute am Leben waren. Ihre Ehefrauen standen auf Lilys Zeugenliste. Die werden unter diesen Umständen niemals für mich aussagen, dachte sie verzweifelt, und sie hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, als der Ankläger die Lügen Mister Füllers zum Besten gab, als wären sie nichts als die Wahrheit. Und wer das hörte, musste sie doch für eine entsetzliche Pfuscherin halten. Sie habe mit obskuren Mitteln wie einer inneren Wendung versucht, das Kind im Mutterleib zu drehen, und es dabei getötet und seine Frau lebensgefährlich verletzt. Deshalb habe er sie ihren Händen entrissen. Weil er nicht wollte, dass sie auf dieser Liege in der Praxis starb, sondern zu Hause in ihrem Bett unter würdigen Umständen ...
Lilys undurchdringliche Gesichtszüge entgleisten bei so viel Unsinn, und sie verdrehte die Augen. Gerade in dem Augenblick, als der Richter sie aufforderte, sich zum Tatgeschehen zu äußern.
Lily räusperte sich ein paarmal, weil sie einen Kloß im Hals verspürte. Mit heiserer Stimme begann sie zu sprechen. Sie schilderte, wie die Frau sie aufgesucht habe und wie ihr beim Abtasten des Bauches der Verdacht gekommen sei, das Kind sei tot. Der Bauch sei mit Hämatomen übersät gewesen, genau wie Oberarme und Schenkel. Sie habe vermutet, dass die Frau misshandelt worden sei.
»Pass bloß auf, was du sagst!«, brüllte es da unflätig aus dem Zuschauerraum.
»Hinaus! Verlassen Sie den Saal!«, befahl der Richter barsch, und Lily konnte nicht ohne Schadenfreude beobachten, wie einer ihrer erbittertsten Gegner aus dem Saal geworfen wurde. Doch dann überwog die Traurigkeit. Selbst wenn sie den Prozess gewinnen sollte, sie würde nie wieder den Frauen helfen können, weil sie das nicht durfte, es sei denn, sie studierte zu Ende, aber in ihrem Alter?
»Fahren Sie fort«, forderte der Richter sie höflich auf.
»Nach den Verletzungen zu urteilen, musste ich von einer Misshandlung ausgehen. Ob das Kind durch äußere Einwirkung zu Tode gekommen war oder durch etwas anderes, konnte ich nicht feststellen. Um das Leben der Mutter zu retten, gab es nur eines: Ich musste die Geburt einleiten. Doch als gerade die Wehen einsetzten, kam Mister Füller und zerrte seine Frau brutal von der Liege und aus dem Behandlungsraum ...«
Lily wusste, dass sie nun von ihrem Anwalt und dem Ankläger ins Kreuzverhör genommen würde.
William trat forsch vor und lächelte ihr gewinnend zu.
»Misses Newman, haben Sie einen irgendwie gearteten medizinischen Eingriff bei Claire Füller vorgenommen?«
»Ich habe ihren Bauch vergeblich nach Herztönen abgehört.«
»Das war alles?«
»Ja, und weil ich vermutete, das Kind sei tot, musste ich die Geburt einleiten, denn es war bereits übertragen, das heißt, länger im Mutterleib, als es sein sollte.«
»Und wie haben Sie das gemacht?«
»Ich gab Misses Füller einen Trank aus wehentreibenden Kräutern und Rizinusöl.«
»Was soll das bewirken?«, mischte sich der Ankläger ein.
»Dass die Wehen einsetzen. Erst kommt der Durchfall, dann das Baby. Umbringen kann man damit keinen, falls Sie darauf hinauswollen.«
Im Saal kam es zu verhaltenem Gelächter. Mit einem flüchtigen Blick auf die Geschworenenbank stellte Lily befriedigt fest, dass sogar einigen der Geschworenen ein Lächeln über das Gesicht huschte.
»Misses Newman, was steht an der Tür Ihrer Praxis?«
»Praxis Doktor Tamati Ngata.«
»Und warum steht Ihr Name nicht an der Tür?«
»Weil ich keine examinierte Ärztin bin, sondern Doktor Ngata bis zu seinem Tod nur assistiert habe.«
»Misses Füller haben Sie aber allein behandelt, nicht wahr?«
»Nach dem Tod von Doktor Ngata gab es in der Region weder eine Hebamme noch einen Arzt. Da ich über genügend Erfahrung verfügte und die Frauen nach mir verlangten, habe ich sein Werk weitergeführt und vielen Menschen damit helfen können ...«
»Ich beantrage, das Letzte als nicht gesagt zu werten. Das ist eine Einschätzung oder besser gesagt Überschätzung der Angeklagten, deren Wahrheitsgehalt die Gegenseite noch zu beweisen hat«, knurrte der Ankläger.
»Antrag stattgegeben«, murmelte der Richter, doch es war ihm anzumerken, dass ihm das gegen den Strich ging.
»Gut, dann frage ich Sie: Sie haben also bei einer Patientin eine Geburt eingeleitet, ohne Ärztin zu sein?«
»Ich hatte doch das Wissen und ...«
»Ja oder nein.«
»Ja.« Lily senkte den Kopf.
»Dann habe ich keine Fragen mehr an die Angeklagte«, bemerkte der Ankläger und warf einen siegessicheren Blick in Richtung der Geschworenenbank.
»Misses Newman, haben Sie Medizin studiert?«, fragte William sie jetzt in sanftem Ton.
»Ja, an der Universität von Otago bei Professor McWeir.«
»Auf welchem Weg haben Sie außerdem das nötige Fachwissen erlangt?«
»Mein Mann studierte in Sydney Medizin und brachte mir alle seine Lehrbücher mit, die ich verschlungen habe.«
»Und später?«
»Ich arbeitete als rechte Hand von Doktor Ngata und lernte dort in der Praxis alles über Geburtshilfe, was ich wissen musste, um es selbst anzuwenden.«
»Und was wäre geschehen, wenn Mister Füller seine Frau nicht aus Ihrer Praxis gezerrt und auf seinem Wagen mitgenommen hätte?«
»Einspruch, Euer Ehren, das ist rein spekulativ. Das hat mit den Tatsachen nichts zu tun.« Der Ankläger wischte sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn.
»Einspruch stattgegeben.«
William aber ließ sich nicht verunsichern.
»Dann will ich die Frage anders stellen. Misses Newman, was haben Sie getan, als Mister Füller seine Frau aus Ihrer Praxis gezerrt hat?«
»Ich habe ihn eindringlich gewarnt. Ich habe gebettelt und gefleht, er möge sie in Ruhe lassen, weil die Wehen eingesetzt hatten und sie ihr totes Kind zur Welt bringen würde. Ich habe ihm auf den Kopf zugesagt, dass seine Frau sterben würde, wenn er sie mitnähme.«
»Ich habe keine Fragen mehr an die Angeklagte«, erklärte William und nickte Lily aufmunternd zu.
Der Ankläger rief jetzt Mister Füller in den Zeugenstand. Lily bemerkte sofort, dass der Mann, der nun den Gerichtssaal betrat, nicht mehr in der Lage war, gerade zu gehen. Er schwankte hin und her. Auch sein knallrotes Gesicht bewies ihr, dass er sich Mut angetrunken hatte. Mit verwaschener Stimme schilderte er, wie er an jenem Tag nach seiner Frau gesucht habe, die angeblich einen Spaziergang am Hafen von Mangawhai habe machen wollen. Sein Kunde habe ihn versetzt, er habe zurück zur Farm gewollt und seine Frau gesucht. Ein altes Maori-Weib habe ihm versichert, sie sei in das Haus von Doktor Ngata gegangen. Er habe das nicht glauben wollen, weil inzwischen bekannt gewesen sei, dass sie gar keine Ärztin sei und das Liebchen eines ...
An dieser Stelle rief der Anwalt: »Halt! Das gehört nicht hierher. Ich beantrage, Euer Ehren, den Zeugen aufzufordern, Spekulationen über das Privatleben meiner Mandantin zu unterlassen!«
»Antrag der Verteidigung stattgegeben. Fahren Sie fort, aber sprechen Sie zur Sache ...«
William warf Lily erneut einen flüchtigen Blick zu, in dem so viel geschrieben stand wie: Der Richter ist auf unserer Seite.
»Dann muss ich anders fragen. Mister Füller, wen meinten Sie, als Sie eben von Doktor Ngata sprachen?«
»Versteh ich nicht«, lallte Mister Füller. Ihn hatte das verfahrensrechtliche Geplänkel der Parteien offenbar völlig aus dem Konzept gebracht. Jedenfalls brachte er keinen vernünftigen Satz mehr zustande.
»Sie da hat das Kind tot... sie hat es totgemacht und dann meine Frau, und ich habe sie gerettet.«
William trat nun einen Schritt auf den Zeugen zu und schnupperte: »Mister Füller, kann es sein, dass Sie Alkohol getrunken haben?«
»Das geht dich gar nichts an, du Scheißkerl!«
»Mister Füller, ist Ihnen nicht gut? Brauchen Sie ein wenig frische Luft?«, fragte der Ankläger in scharfem Ton.
Der Farmer sah ihn etwas dümmlich an, doch dann schien er zu begreifen. Er nickte eifrig.
»Ich beantrage eine kleine Unterbrechung«, verkündete der Ankläger und versuchte, nassforsch zu klingen. Dabei konnte er seine Sorge, was die Jury wohl von so einem Zeugen halten mochte, kaum verbergen.
»Antrag stattgegeben, wir machen fünfzehn Minuten Pause.«
»Ich glaube, wir haben gute Karten«, raunte William Brewer Lily zu. »Wenn Sie freigesprochen werden, darf ich Sie dann demnächst einmal in mein Haus in Auckland zu einem Essen einla-den?«
Lily hatte bereits so eine vage Ahnung, dass der Anwalt mehr in ihr sah als eine bloße Mandantin. Sie mochte ihn auch, keine Frage, aber ob sie sich wirklich zu ihm nach Hause würde einladen lassen, das konnte sie zu diesem Zeitpunkt nicht mit Gewissheit sagen. Erst einmal musste dieser Albtraum zu Ende sein.
»Vielleicht, denn ich bin in der nächsten Woche in Auckland, um jemanden zu treffen«, erwiderte sie diplomatisch. An die bevorstehende Begegnung mit Peter konnte Lily nicht denken, ohne dass ihr das Herz bis zum Hals klopfte. Allein die Vorstellung, plötzlich einem jungen Mann gegenüberzustehen, im Wissen, dass er ihr Sohn war ...
»Sie haben einen guten Eindruck gemacht, Misses Ngata, der Richter mag Sie.«
Lily hob die Schultern. »Aber ich glaube, die grimmig dreinschauenden Geschworenen haben mich nicht ganz so in ihr Herz geschlossen.«
»Solange wir der Gegenseite keine Gelegenheit geben, der Jury Ihre privaten Verhältnisse auf die Nase zu binden, sehe ich da nicht so schwarz. Ich werde alles abwürgen, wenn der Ankläger versucht, Ihre Beziehung zu Doktor Ngata auf den Tisch zu bringen sowie die Tatsache, dass Sie all die Jahre auf dem Papier noch mit Mister Newman verheiratet waren.«
Weiter kam er nicht, weil der Prozess mit der Vernehmung des Farmers fortgesetzt wurde. Mister Füller wirkte wie umgewandelt. Lily vermutete, der Ankläger hatte ihm einen Eimer mit kaltem Wasser über den Kopf gekippt.
Mister Füller saß kerzengerade da, die Hände gefaltet. Er hatte jetzt eine ernste Miene aufgesetzt.
Doch bevor der Ankläger seine Befragung beginnen konnte, kam ihm William zuvor. In freundlichem Ton fragte er: »Hatten Sie an dem Tag, als es passierte, auch getrunken?«
»Das ist eine Frage, die nichts, aber auch gar nichts mit dem Sachverhalt zu tun hat. Ich beantrage, die Frage zu streichen!«, brüllte der Ankläger.
»Das sehe ich anders. Wenn Mister Füller an jenem Tag betrunken war, so könnte dies einen Einfluss auf seine Wahrnehmungsfähigkeit und sein Verhalten gehabt haben«, entgegnete William scharf.
»Antrag abgelehnt. Bitte, Mister Füller, beantworten Sie die Frage des Verteidigers. Haben Sie an dem Tag, als es geschah, Alkohol getrunken?«
Der Farmer lief knallrot an. Lily glaubte, er würde gleich wieder pöbeln, doch ein warnender Blick des Anklägers hielt ihn ganz offensichtlich davon ab.
»Ja, ich habe vielleicht einen Whisky getrunken oder auch zwei«, murmelte er.
»Was haben Sie gesehen, als Sie in das Behandlungszimmer kamen?«
»Meine Frau lag da in ihrem Kot und schrie erbärmlich.«
»Haben Sie gesehen, dass Misses Newman etwas mit ihr gemacht hat?«
»Nein, nicht direkt, aber das hatte sie ja vorher getan. Und ich hatte meiner Frau verboten, zu dieser ...« Er stockte.
»Mister Füller, stimmt es, dass Sie Ihre Frau wiederholt geschlagen haben? Auch während der Schwangerschaft?«
»Euer Ehren, ich beantrage, diese Frage zu streichen. Sie hat nichts mit dem Sachverhalt zu tun.« Das Gesicht des Anklägers glühte nun feuerrot, und ständig wischte er sich mit einem riesigen Taschentuch den Schweiß von der Stirn.
»Antrag abgelehnt«, erklärte der Richter ungerührt.
»Haben Sie Ihre Frau während der Schwangerschaft geschlagen?«
»Was geht dich das an?«, schrie Mister Füller. »Sie ist meine Frau gewesen, und die kann ich so oft schlagen, wie ich will! Weißt du, wie sie aussah? Wie eine tragende Kuh!«
»Hatten Sie während der Schwangerschaft Ihrer Frau bereits eine Beziehung zu einer anderen Frau?«
»Einspruch, Euer Ehren!«, schrie der Ankläger, aber Mister Füller war bereits aufgesprungen und wollte sich auf William stürzen. »Lass Katarina aus dem Spiel!«, brüllte er, doch da hielten ihn bereits zwei starke Polizisten fest.
»Ich habe keine Fragen mehr«, sagte William, bemüht, sich den Triumph nicht anmerken zu lassen. »Bitte, Mister Owen, Ihr Zeuge.«
»Ich habe auch keine Fragen mehr an ihn«, zischte der Ankläger sichtlich angeschlagen, zumal sich in diesem Augenblick die Reihen der Zuschauer merklich lichteten. Geschlossen verließen die Männer aus Mangawhai den Saal.
Lily fasste neuen Mut. Plötzlich war ihr Kampfgeist wieder da. Ja, sie würde das Studium der Medizin eines Tages mit Bravour absolvieren, um ihre Arbeit fortführen zu dürfen. Schließlich gab es inzwischen auch ein College in Auckland, das Medizin anbot.
Lily war so in ihre Gedanken versponnen, dass sie im ersten Moment von dem Tumult im Saal wenig mitbekam. Erst als Matui in den Gerichtssaal trat, folgte sie dem Geschehen wieder. Ein Raunen ging durch den Saal, als sich der alte Maori in seinem feinen britischen Anzug in den Zeugenstand begab.
William bat ihn zu schildern, was er an jenem Tag in der Praxis erlebt hatte. Das tat Matui in perfektem Englisch und mit ruhiger Stimme. Alles deckte sich mit Lilys Aussagen, doch dann erstarrte sie, als sie Matui sagen hörte: »Lily Ngata ist ein Segen für die Frauen. Sie ist berufen, das Werk ihres Mannes Tamati fortzusetzen.«
Bevor Lily sich überhaupt ausmalen konnte, was diese nett gemeinten Worte auslösen würden, hatte der Ankläger die günstige Gelegenheit ergriffen.
»Ist die von Ihnen hochgelobte Lily Ngata hier im Saal anwesend?«
Lächelnd deutete Matui in Richtung der Angeklagten.
»Diese Frau ist also Lily Ngata?«
»Ja, aber das wissen Sie doch«, erwiderte Matui unwirsch.
»Nein, die Angeklagte ist uns bekannt als Emily Newman. Stimmt es, dass sie, obwohl sie mit einem gewissen Doktor Newman verheiratet war, sich als Ehefrau des Maori-Arztes Tamati Ngata ausgab und mit diesem unter einem Dach lebte?«
»Ich beantrage, diese Frage zu streichen«, verkündete William, der sichtlich um Fassung rang.
»Antrag stattgegeben!«
Lily spürte mehr denn je ihren pochenden Kopfschmerz, der sie seit Tagen wieder in aller Härte heimsuchte. Nun hat es diese Ratte doch geschafft, mich als Maori-Hure zu entlarven, dachte sie, und sie wünschte sich, dass die Geschworenen niemals diesen Einblick in ihr Privatleben gewonnen hätten.
»Keine Fragen mehr an den Zeugen Matui Hone Heke«, erklärte William hastig.
»Ich auch nicht«, pflichtete ihm der Ankläger bei.
Auf die Frage, ob es noch Zeugen gebe, die die Angeklagte belasteten, musste der Ankläger Mister Owen passen. Doch William hatte noch jede Menge Zeugen zu bieten. Zunächst ließ er drei Maori-Frauen schildern, wie Lily ihnen geholfen hatte. Dann rief er den ersten Namen einer Pakeha auf.
Lily befürchtete, sie würde nicht vor Gericht auftreten, obwohl Lily sie einst vor dem sicheren Tod gerettet hatte.
Der Richter wiederholte seinen Aufruf.
»Ich bitte Misses O’Neil in den Zeugenstand.«
Nichts rührte sich, und Lily gab die Hoffnung auf, dass eine der weißen Frauen für sie aussagen würde. Da trat Nora O’Neil, die Frau des Kolonialwarenhändlers, eines der Männer, die eben noch den Zuschauerraum bevölkert hatten, mit gesenktem Kopf auf den Richter zu.
William sagte nur: »Danke, dass Sie gekommen sind«, und überließ dem Ankläger das Wort.
»Sie wollen also behaupten, dass Misses Newman Sie geheilt hat?«
Nora O’Neil blickte dem Ankläger unverwandt in die Augen.
»Doktor Ngata ist nicht nur der Engel der Maori, sondern auch unser Engel. Ich hatte ein Kind, das sich auf die Seite gedreht hatte. Ein Todesurteil, aber sie hat mein Kind und mich gerettet.«
Der Ankläger wischte sich fahrig über die Stirn und murmelte: »Keine Fragen.«
So ging es ihm auch bei den folgenden Zeuginnen, alles Pakeha-Frauen, und zwar jene, die nicht mehr zu ihr gekommen waren, seit Mister Füller seine Lügen in Mangawhai und Umgebung verbreitet hatte.
Lily verkniff sich ein Lächeln. Weitere Frauen lobten sie in höchsten Tönen. Sie lächelten ihr sogar zu. Dann kündigte William Professor McWeir aus Dunedin an. Als der weißhaarige Herr in den Zeugenstand trat, nachdem er seiner ehemaligen Studentin freundlich zugewunken hatte, stockte ihr der Atem. Davon hatte ihr der Anwalt nichts erzählt.
Bei seinen lobenden Worten konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Er bezeichnete sie als einzigartig begabt.
Der Richter hörte aufmerksam zu. Lily warf einen flüchtigen Blick zu den Geschworenen hinüber. Sie stierten sie immer noch wie eine Kapitalverbrecherin an.
Als der Professor geendet hatte, trat der Ankläger vor ihn und fragte süffisant: »Aber sie hat keinen Abschluss gemacht, nicht wahr? Warum nicht? Nachdem Sie doch in höchsten Tönen von ihr schwärmen.«
»Sie ist aus Dunedin in den Norden gezogen, soviel ich weiß.«
»Wie lange war sie denn überhaupt Ihre Studentin?«
Der Professor hob die Schultern. »Legen Sie mich nicht auf den Tag fest. Ein halbes Jahr.«
Der Ankläger lachte gekünstelt auf und stellte sich gewichtig vor der Geschworenenbank in Position.
»Und Sie können nach einem halben Jahr beurteilen, ob jemand das Zeug zum Arzt hat?«
»Ja, das kann ich in der Tat, denn es müssen zwei Dinge Zusammenkommen: ein Händchen für den Beruf und die Bereitschaft, sich das Wissen anzueignen. Und Lily Newman besaß beides. Sie besitzt ein Gespür für den menschlichen Körper, sie ist einfühlsam, und sie verfügte schon damals über ein Wissen, das so mancher Student nicht hat, wenn er vor dem Examen steht.«
»Keine Fragen mehr«, knurrte der Ankläger.
»Dann darf ich Euer Ehren vielleicht bitten, die Zeugin Mary Ridley hereinzurufen.«
Der Ankläger stürmte zum Richtertisch. »Moment mal! Wer ist das? Was kann sie zu der Tat sagen?«
»Sie kann bezeugen, dass Mister Füller einen Tag vor der angeblich fahrlässigen Tötung zu seiner Geliebten gesagt hat, dass er ihr seine Frau und das Balg vom Hals schaffen werde. Und dass Miss Ridley seine Frau kurz darauf fürchterlich hat schreien hören.«
»Was hat das mit diesem Fall zu tun? Ich beantrage, sie nicht in den Zeugenstand zu rufen!«, polterte der Ankläger los und lief krebsrot an.
»Antrag abgelehnt. Die Zeugin Mary Ridley, bitte!«
Die junge Frau betrat schüchtern den Saal. Sie war noch keine zwanzig und sichtlich gehemmt. Sie traute sich gar nicht, den Blick zu heben, als William sie aufmunternd fragte, was sie an jenem Februartag im Hause Füller gehört habe.
Sie holte tief Luft, bevor sie mit leiser Stimme berichtete, dass sie zu dem Zeitpunkt Haushaltshilfe bei den Füllers gewesen sei und das Essen zubereitet habe, als sie vor dem Fenster laute Stimme gehört habe. Und sie habe plötzlich geglaubt, die Stimme der neuen Küchenhilfe herauszuhören. Das habe ihre Neugier erregt, weil deren Ton sehr unverschämt gewesen sei. Also habe sie unbemerkt einen Blick auf Mister Füller und diese Katarina erhascht. Sie habe dagestanden, die Hände in die Hüften gestemmt, und Mister Füller gesagt, er solle endlich dafür sorgen, dass die Alte von der Farm verschwinde. Das sei der Platz für sie und ihr Kind. Mister Füller habe sie daraufhin in die Arme genommen und ihr versprochen, er werde dafür sorgen, dass die Alte samt dem Balg für immer verschwinde.
Die Zeugin sah beschämt zu Boden. »Das hat er wortwörtlich gesagt, und mir hat nur Misses Füller von Herzen leidgetan.«
»Sie haben also gelauscht. Und woher wollen Sie wissen, dass Mister Füller von seiner Ehefrau sprach?«, ging der Ankläger barsch dazwischen.
»Weil er kurz darauf zu seiner Frau ins Schlafzimmer gegangen ist und sie verprügelt hat.«
»Waren Sie dabei?«
Mary Ridley schluchzte laut auf. »Nein, aber ich habe sie schreien hören. Bitte, nicht in den Bauch! Bitte nicht. Denk an das Kind!«
»Keine Fragen mehr«, murmelte der Ankläger sichtlich betroffen.
Im Zuschauerraum weinten einige Frauen.
»Ich habe auch keine weiteren Fragen an Sie, Mary. Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte William mit sanfter Stimme.
»Wenn es keinen weiteren Zeugen gibt, dann hören wir jetzt die Anklage. Mister Owen, Ihr Plädoyer, bitte!«, verkündete der Richter.
Der Ankläger rang sichtlich um Fassung, doch er lehnte sich betont lässig gegen die Brüstung der Geschworenenbank.
Mit schriller Stimme verteufelte er die falsche Ärztin, die jedermann in Mangawhai als Lily Ngata kannte, die aber in Wirklichkeit Emily Newman heiße. Diese Pfuscherin, die sich dazu aufgeschwungen habe, Frauen angeblich helfen zu können. Die sich aber dermaßen überschätzt habe, dass sie durch einen Fehler das ungeborene Kind der Claire Füller getötet habe und unbefugt eine Geburt eingeleitet habe, die Claire Füller nicht überlebt habe. Dass ihr Mann sie ihren Händen entrissen habe, sei nur verständlich. Und den Spieß nun umdrehen zu wollen, statt der Pfuscherin das Handwerk zu legen, sei perfide.
Er wurde immer lauter, bis er schließlich so laut brüllte, dass sich seine Stimme überschlug.
Lily musterte während seines Plädoyers der Reihe nach alle zwölf Geschworenen. Ihre Gesichter waren gleichermaßen ausdruckslos. Ein eiskalter Schrecken durchfuhr sie. Diese Männer fielen doch nicht etwa auf diesen üblen, verlogenen Auftritt des Anklägers herein? Sie war so aufgeregt, dass sie auf ihren Lippen herumkaute.
William Brewer hingegen setzte auf Ruhe und Gelassenheit. Er sprach mit fester, ruhiger Stimme und gab in knappen Worten wieder, wie sich die Ereignisse in Wirklichkeit abgespielt hatten. Er schilderte anschaulich, dass die Angeklagte alles getan habe, um Claire Füller zu helfen. Und zwar genau so, wie es medizinisch erforderlich gewesen sei. Sie habe zwar kein Examen, aber sei vielleicht eine bessere Ärztin als viele andere. Sie habe den Ehemann angefleht, das Leben seiner Frau retten zu dürfen, aber offenbar habe er kein Interesse daran gehabt, dass Lily Newman seiner Frau half, nachdem er sich bereits tags zuvor des ungeborenen Kindes entledigt habe.
Der Verteidiger legte eine Pause ein und blickte die Jury beschwörend an, bevor er fortfuhr.
»Aber ich bin nicht hier angetreten, um Mister Füller zu verurteilen, sondern nur um darzulegen, dass er ein Motiv hatte, meiner Mandantin die Schuld in die Schuhe zu schieben. Der Frau, die Claire Füllers Leben mit Sicherheit gerettet hätte, wenn Mister Füller sie nicht gewaltsam aus der Praxis Emily Newmans verschleppt und auf einen Wagen geladen hätte und so über die steinigen Pisten in die Berge gefahren wäre.«
Im Gerichtssaal hätte man in diesem Augenblick eine Nadel fallen hören können. So still war es. Das Einzige, was überhaupt Geräusche machte, war der schnaufende Atem des Anklägers.
Der Richter schickte die Geschworenen nun zur Beratung und gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass sie möglichst zügig zu einem Urteil gelangen würden.
Wieder nutzte William die Gelegenheit, zu Lily zu gehen. »Es könnte gar nicht besser laufen«, flüsterte er befriedigt.
»Ich glaube es erst, wenn die Geschworenen zurück sind«, seufzte Lily.
»Vertrauen Sie mir. Da kann nichts mehr schiefgehen.«
»Und werden Sie Mister Füller vertreten, wenn Anklage gegen ihn erhoben wird?«
»Wohl kaum. Ich muss meine Mandanten nicht lieben, aber sie sollten mir nicht ganz so zuwider sein wie er.«
»Wo ist er überhaupt?«
»Ich nehme an, er hat Fersengeld gegeben«, lachte der Anwalt.
Lily schien die Wartezeit endlos. Immer wieder schielte sie zu der Tür hinüber, durch die jene zwölf Männer verschwunden waren. Zu gern hätte sie Mäuschen gespielt und den Erwägungen der Geschworenen gelauscht.
Als es so weit war, klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Angespannt beobachtete sie, wie der Sprecher der Geschworenen vor das Pult trat und dem Richter ein Stück Papier überreichte. Darauf steht mein Schicksal geschrieben, dachte Lily bang, während sie ihre zitternden Hände unter dem Tisch verbarg.
»Die Geschworenen sind zu einem einstimmigen Urteil gelangt. Nicht schuldig!«
Mehr hörte Lily nicht. Sie fing den triumphierenden Blick ihres Anwaltes auf und hörte zustimmendes Raunen aus dem Saal. Als sie einen Blick zu den Geschworenen hinüberwarf, stellte sie mit Genugtuung fest, dass die vormals versteinerten Gesichter der Männer jetzt menschliche Züge trugen. Der eine oder andere lächelte ihr sogar aufmunternd zu.
Auch dem Richter war deutlich seine Erleichterung anzumerken. Nur der Ankläger verließ den Saal eilig und mit gesenktem Kopf.
»Was halten Sie davon, wenn Sie mit uns nach Mangawhai kommen und ich Matui und Sie bekoche?«, fragte Lily den Anwalt, während sie auf den Flur hinaustraten.
Sein freudiges »Nichts lieber als das« ging in dem Ansturm der Reporter unter.
In der Menschenmenge wurden Lily und ihr Anwalt getrennt. Sie wurde von einem Pulk nach draußen geschoben und freute sich, als sie Matui erblickte, der über das ganze Gesicht strahlte. Sie winkte ihm zu, doch dann erstarrte sie. Wie aus dem Nichts war plötzlich Mister Füller aufgetaucht. In der einen Hand hielt er eine Flasche Whisky, in der anderen einen in der Sonne glitzernden Gegenstand. Zu spät erkannte Lily, dass es ein Messer war, denn nun ging alles blitzschnell.
»Wenn ich schon ins Gefängnis muss, dann soll es sich wenigstens lohnen«, lallte er und stürzte sich auf sie.
Lily spürte einen leichten Schmerz in der Brust, während sie nach hinten kippte und zu Boden fiel. Sie war ganz ruhig, doch um sie herum schrien die Menschen. Lily aber wusste nicht, warum. Sie hatte nur noch Augen für Tamati, der in seiner ganzen Größe über ihr zu schweben schien.
»Komm mit mir«, lockte er sie zärtlich und streckte ihr seine Hand entgegen. Lily wollte sie ergreifen, aber sie konnte den Arm nicht heben.
»Du musst mich tragen, Liebster«, flüsterte sie, und sie fühlte sich unendlich geborgen, schwerelos und glücklich, wie lange nicht mehr.
Matui und William Brewer hatten sich gleichzeitig den Weg zu ihr gebahnt. Starr vor Entsetzen beugten sich die beiden sonst so starken Männer über die selig lächelnde Lily, die längst bei Tamati war. Der Anwalt war der Erste, der seinen Tränen freien Lauf ließ, doch dann schluchzte Matui ebenfalls voller Verzweiflung auf. Es war der Verlust, der ihn schmerzte, aber auch die Vorstellung, dass sie gestorben war, ohne ihren Sohn wiederzusehen. Und das, nachdem das Treffen zum Greifen nahe gewesen war. Noch fünf Tage, und sie wären einander begegnet. Und nun musste er sich statt ihrer nach Auckland aufmachen, um Peter die traurige Nachricht zu überbringen. Warum haben die Ahnen nicht mich genommen?, fragte er sich bekümmert.